Eine Windböe stieß Julia auf Laura und drückte beide an die steile Felswand. Laura stöhnte auf und sackte zusammen. Julia konnte gerade noch mit letzter Kraft verhindern, dass sie beide von dem schmalen Weg in die Tiefe taumelten.
 
Schwer atmend presste sie ihren Kopf an Lauras Brust. Der Lichtstrahl ihrer Kopflampe verschwand in Lauras Anorakjacke und tauchte die Felslandschaft wieder in pechschwarze Finsternis.
 
„Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!“, hörte sie Laura schluchzen.
 
Wie konnte dieser wunderbare Kletterausflug so schnell eskalieren? Vor einer halben Stunde hatte Laura noch gelacht, die Haare zerzaust vom aufkommenden Wind und jetzt kämpften sie beide ums Überleben. Hagelkörner prasselten auf ihren Kopf und Rücken.
 
„Wir müssen weiter!“, presste Julia hervor, „Es kann nicht mehr weit sein!“.
 
500 Meter hatte ihr der Mann von der Bergwacht am Telefon gesagt. Den Weg entlang bis zu der riesigen Tanne.
 
„Wie soll ich in diesem scheiß Wetter eine Tanne sehen?“, dachte Julia und ließ verzweifelt den Lichtstrahl ihrer Kopflampe hin- und herpendeln. Laura sackte zusammen, aber Julia schob sie wieder Felswand entlang nach oben.
 
„Du gibst mir jetzt nicht auf!“, schrie sie Laura durch das Kreischen der nächsten Windböe hindurch an. Sie schob Lauras linken Arm wieder über ihre Schulter.
 
„Hinter der nächsten Biegung muss es sein!“, rief sie und zog eine stöhnende Laura mit ihr mit, den Weg entlang. Julia aktivierte ihre letzten Reserven und taumelte mit Laura um die Biegung in die undurchdringliche Schwärze des Unwetters. Julias Kopflampe ließ nur schemenhafte Umrisse auftauchen und sofort wieder verschwinden.
 
Der Wind trieb sie unbarmherzig weiter voran, bis sie beide plötzlich mit voller Wucht gegen ein Hindernis prallten. Julia sah Sterne und schmeckte Blut, das bei jedem verzweifelten Atemzug in ihrem Mund landete. Geistesgegenwärtig hielt sie sich an dem Hindernis fest und rief:
 
„Laura, halt dich fest!“.
 
Mit vereinten Kräften schafften sie es, sich gegen den Wind zu stemmen und stehen zu bleiben. Laura versuchte ihren Blick auf das Hindernis zu fokussieren.
 
„Ist das ein fucking Baum?“, presste sie heraus.
„Ist mir scheiß egal, Hauptsache er will mich nicht umbringen!“, krächzte Laura.
 
Julia richtete den Strahl ihrer Lampe am Baum vorbei in die Finsternis. Irgendetwas reflektierte plötzlich den Lichtstrahl. Ein Fenster materialisierte sich in der Dunkelheit.
 
„Das muss die Hütte sein!“, rief Julia und zerrte eine auf einem Beim hüpfende Laura mit sich.
 
Eine Windböe warf beide gegen die knorrige Tür der Schutzhütte, die unter ihrem gemeinsamen Gewicht nachgab und sie unsanft auf dem Boden der Hütte landen ließ. Laura schrie auf, aber sie umklammerten  sich gegenseitig schluchzend, lebendig und in Sicherheit zu sein.















Originalhandschrift
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