von Michaela und Günter

Autor: Günter Schaden Seite 2 von 11

Maja - Wasserzeichen

Maja

Eine Episode aus dem Leben einer Forschungsbiene

A tribute to „Biene Maja“

„Majaa, Majaaaa!“
 
Wie dieses Herumgeschreie nervte!
Als sie noch Kinder waren, war das ja noch niedlich gewesen. Aber wer konnte damals ahnen, dass er durch seine Kombination aus Faulheit und Niedlichkeit jetzt genau ihr an der Backe kleben würde.

„Majaaaa, Majaaaaaa!“, hörte sie ihn noch lauter rufen.
„Jahaa, Willi, ich komme schon!“, summte sie genervt zurück.
„Sein Mund hatte immer schon am besten funktioniert.“, dachte sie, „Kein Wunder, dass er jetzt zu dick zum Krabbeln ist.“.

Maja seufzte, legte den Entwurf für den Forschungsbericht auf die Seite und krabbelte aus ihrer Forschungswabe in Richtung Großraumwabe. Dafür hatte sie nicht fünf Bienenjahre studiert, das Lebensverlängerungselexier entdeckt, den Propolis-Preis dafür bekommen, um jetzt Kindermädchen für diese alterssichtige Drohne zu spielen.
Aber es war nun mal ihr bester, weil einziger Drohnenfreund, der jetzt versuchte, als Laborassistenzdrohne seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Nicht, dass er dafür viel machen musste, denn als einzige 53-jährige Drohne genoss er Großvater-Schutz bei den jungen Arbeitsbienen.

„Mmmmm!“
„Ja, bin schon da, sei leise Willi!“, zischte Maja, „Stör nicht schon wieder die Telegrafen-Bienen beim Schwänzeln!“
„Hehe, Schwänzeln, da fällt mir dieser Witz ein, schwänzelt eine Arbeitsbiene zur anderen…“
„Willi, ich habe nicht alles liegen und stehen lassen, um mir deine anzüglichen Schwänzel-Witze anzuhören, was willst du von mir?“
„Aber der ist wirklich gut, also die Arbeitsbiene schwänzelt…“
„Willi, mir reichts gleich, soll ich dir wieder den Schwänzelkanal streichen lassen?“
„Nein, bitte, nicht, es läuft gerade der Sommerstock der Schwänzelstars und die eine Drohne…“
„Willi, ich will das alles nicht wissen! Und dein Laborkittel ist auch schon wieder voller Blütenstaub!“
„Naja, Waltraud hatte diese Töpfe mit den leckeren Blütenstaub-Krapfen mitgebracht und…“
„Und du musstest natürlich deinen Kopf fühlertief in den Topf hineinstecken und deinen Laborkittel vollkleckern.“
„Ja, genau, und dabei ist mir eingefallen, dass wir heute die Pokerrunde mit Puck und Flip haben und ich dich ja daran erinnern sollte!“
„Was, das ist heute?! Ich hatte dir doch gesagt, dass du mich drei Tage vorher erinnern sollst, damit ich noch Nektar einkaufen kann!“
„Upps, ja, ähh, na ich war ja die letzte Tage dermaßen mit Arbeit eingedeckt…“

Maja rollte mit allen Facetten ihrer Augen. Wenn er doch einmal etwas hinbekommen würde.  Aber dann setzte er wieder diesen Drohnenblick auf und sie konnte ihm nichts übel nehmen.
„Na gut, dann muss ich schauen, dass ich rechtzeitig mit meinem Experiment fertig werde. Du kaufst dafür diesmal den Nektar ein, aber nicht diesen Fusel wie beim vorherigen Mal! Da konnten wir nicht einmal mehr die Spielkarten sehen, ein Wunder dass wir nicht alle blind geworden sind!“
„Hehe, du bist nur eine schlechte Verliererin, weil ich all deine Honigtaler eingesackt hatte…“
„Hmpf, das war nur reines Glück. So, hab schon zu viel Zeit mit deinem Blödsinn verplempert, der Bericht für Königin Kassandra schreibt sich nicht von selbst.“
„Brrr, Berichte…“. Willi schüttelte sich schaudernd.
„Gestern hatte ich diesen Albtraum von dem Quartalshonigbericht, in dem ich eine Wabe nach der anderen…“

Maja war schon wieder auf dem Weg zurück in ihr Laborwabe, während Willi das Trauma seiner Faulheitsexistenz an seinem inneren Auge vorbeiziehen sah.
Sie träumte von der Berechnung der analytischen Fortsetzung der Fakultät der Integralrechnung zur Bestimmung des Propolis-Pollenanteiles. Aber ein Blick auf die Wabenuhr holte sie in die Realität zurück.

„Nur noch genug Zeit den Forschungsbericht fertigzustellen.“, dachte sie,
„Aber danach werde ich diesen überheblichen Insekten den letzten ihrer Honigtaler abnehmen!“, während ihre goldenen Facettenaugen vorfreudig aufblitzten.

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Wenn die Hölle zufriert Günter WASSERZEICHEN

Wenn die Hölle zufriert

„Ach, wie damals in München am Riemer See!“, rief Adolf Hitler, während er auf dem zugefrorenen Styx rückwärts zu einem doppelten Rittberger ansetzte.
Er hatte aber seine Rechnung ohne Josef Stalin gemacht, der – in Gedenken an Stalingrad – eine Rolle Stacheldraht in Hitlers Absprungzone warf.
Und natürlich im Auftrag Luzifers, der – in einen Lammfellmantel gehüllt – versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Denn auch Josef Stalin hatte sich zu früh gefreut.

Sein Geruchssinn hätte ihn warnen sollen, doch dieser war hinterhältigerweise von Luzifer blockiert worden. So konnte er nicht wahrnehmen, dass Mao Tse Tung, Kim Jong Il und Pol Pot in einer asiatischen Allianz auf das Eis rund um Josef Stalin gepinkelt hatten.
 
„Ho, ho, ho“, lachte Josef Stalin, während Adolf Hitler fluchend in Stacheldraht gehüllt über den Styx rollte.
„Hi, hi, hi“, lachten Mao, Kim und Pol Pot, während Josef Stalin mit einem
„Was zur Hölle!“, in den eisigen Fluten seiner Wolga-Erinnerung versank.
 
Luzifer hätte jetzt gerne die asiatische Allianz durch den Mongolenkrieger Dschingis Khan niedermetzeln lassen, aber der war ja nicht verfügbar, weil im Himmel.
Gott hatte ihm eine Dispens gegeben, auch wenn Jesus versucht hatte, wegen der ganzen Morde zu intervenieren.
Aber Gott sagte nur pragmatisch:
„7324 Morde gegenüber 23956 Nachkommen, ich sagte doch, seid fruchtbar und vermehret euch, wie viele Nachkommen hast du, Jesus?“.
Jesus hatte sich dann schmollend zu Eva in den Garten Eden verzogen, aber die hatte mit ihren 7487 Jahren definitiv genug von Männern und Adam war sicher nicht bereit für eine offene Beziehung.
 
„Ah, das waren noch Zeiten“, dachte Luzifer, „Als ich noch nicht von dieser verdammten Wolke gestolpert war. Gefallener Engel, pah. Gott hätte mich auffangen können, wenn er nicht gerade noch seinen Rausch von seiner Sintflut-Feier ausgeschlafen hätte.“
 
Luzifer sah kopfschüttelnd zu seiner asiatischen Allianz hinüber, die gerade um das Loch im Eis tanzten und
„Ach wie gut, dass niemand weiß!“, sangen.
 
Luzifer nützte die Gelegenheit und ließ Mao, Kim und Pol Pot ihre Namen vergessen.
„Gott kann sich gerne Zeit lassen mit seiner Kältetherapie.“, dachte er, wohlig in seinen Lammfellmantel gehüllt.
 
„Wobei seine Midlife-Crisis bei dem was die Menschen aufführen, zeitlich etwas spät zu beginnen scheint. Aber so ist Gott halt, ewiger Optimist.“
 
Er beobachtete noch kurz Mao, Kim und Pol Pot, die sich gegenseitig anschrien:
„Dass ich hnhnhnhn heiß!“, und machte sich auf die Suche nach seinen nächsten Kälteopfern.

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Qietschrosa 2

Quietschrosa 2

Stolz trabte Qietschrosa zwischen ihren Freunden Froschgrün und Himmelblau auf dem Weg zurück nach Hause, zur grauen Weide (nicht zum Verwechseln mit der Weide des Grauens, dort lebten die Wer-Hörner – brrr – aber das ist eine ganz andere Geschichte).

Ihr Kopf war noch voll von den Farben und Bildern der Namensweihe am Spiegelsee. Quietschrosa und ihre drei Freunde hatten ihren Namen in den Regenbogen eingefügt. Damit durften sie jetzt endlich ihre Farbreise antreten, um nach ihrem Komplementär-Farbeinhorn zu suchen.
Qietschrosa schnaubte leise und dachte schaudernd an all ihre vergeblichen Versuche zurück, dieses Wort richtig auszusprechen.

„Das haben sich die Erwachsenen sicher nur ausgedacht, um über uns zu lachen.“, dachte sie, „Wer würde sonst auf so ein Wort kommen: Komplementär-Farbeinhorn! Wenn ich endlich Leit-Farbeinhorn bin, werde ich das sofort abschaffen und zum Beispiel dadurch ersetzen: wechselseitig ergänzender Kolorierungseinhornspartner. Ähhh oder sowas ähnliches…“

Quietschrosa stolperte und konnte gerade noch so verhindern, mit ihrem Einhorn den Weg umzupflügen.
Jemand hinter ihr kicherte hämisch. Vorwurfsvoll blickte Quietschrosa sich um.

Bei allem Verständnis, sie hätte sich selbst auch gewünscht, in letzter Sekunde noch einen anderen Namen zu bekommen. Aber das war kein Grund dafür, dass Uringelb ihren Frust an ihr ausließ.
Sie konnte sich gerade noch zurückhalten und Uringelb nicht „Viel Spaß auf der Suche nach Kackbraun!“ zuzurufen.

Quietschrosa schüttelte nur den Kopf und träumte von der Suche nach ihren potenziellen Partnern. Vielleicht „Neongelb“ oder „Feuerrot“, aber hoffentlich nicht „Giftgrün“…

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Die Angst vor der Hoffnung

Die Angst vor der Hoffnung

Im Halbdunkel des Ichs
erstrahlt das Licht der Neugier
so grell wie ein Blick in die Sonne
 
geblendet
orientierungslos
leidenschaftlich
 
reiße ich an der Schnur
die den Vorhang fallen lässt
vor die Bühne des Lebens
 
ich lege den Schalter um
und das Rampenlicht
erlischt
 
unsichtbarer Dampf
steigt auf von
abkühlenden
 
heißen
nachleuchtenden
Potenzialen
 
Gemurmel im Saal
unruhiges Rutschen auf Stühlen
Applaus brodelt gegen die Bühne
die Hand an der Schnur
die Hand an dem Schalter
des Lebens
Potenziale
 
Kann ich sie ertragen?
Können sie mich ertragen?
Muss ich sie ertragen?
 
Ein Flug zur Sonne
ohne Blick zurück
verglüht
Schmerz
Wut
unermessliche Freude
und auch
die Angst vor der Hoffnung

Originalhandschrift
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Trude Günter Wasserzeichen

Trude

„Guruu, Gehirn, Guruu!“, krächzte Trude, die Zombietaube.
 
Sie saß am Sims einer Mansardenwohnung gegenüber dem Stephansdom.
Konzentriert schärfte sie ihren Schnabel an den bereits glattpolierten Stäben des Dornengitters.
 
Der schwarze Schimmel auf ihrem vormals blau-grauen Gefieder verschluckte Großteils das Licht, das vom Fernseher der Wohnung hinter ihr über sie hinwegflackerte.
Ein milchiges Auge fixierte Menschen, die im abendlichen Halbdunkel weit unter ihr – scheinbar fröhlich – über den Stephansplatz torkelten.
Das andere Auge, das bereits ein wenig aus seinem Sockel heraushing, versuchte die Schärfe des Schnabels einzuschätzen.
 
„Guruu, Gehirn, Guruu, Gehirrrrrn!“, krächzte Trude hungrig.
 
Sie beschloss, dass ihr Schnabel jetzt scharf genug war, um durch den Augapfel, die Netzhaut und den Sehnerv in das ersehnte menschliche Gehirn zu gelangen.
Ihre Augen begannen Chamäleon gleich über die Passanten zu zucken, auf der gierigen Suche nach dem leichtesten Opfer.
Trude war so konzentriert auf die Beute unter ihr, dass sie den leisen Luftzug nicht wahrnahm, der über sie hinwegstrich.
 
„Guruu, Gehiiii…..“, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr eigenes Gehirn aufgespießt wurde.
 
„Fiep, Taubengehirn, Fiep!“, piepste Nils, der Zombiehamster, als er genüsslich das Gehirn der Zombietaube durch seine Nosferatu-Zähne aufsaugte.

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Gemeinsamkeiten Günter Wasserzeichen

Gemeinsamkeiten

Ein Einzeller Märchen

Hansi, das Pantoffeltierchen, schwebte in einem Bällebad aus Wassermolekülen.
Stolz strich es mit den Flimmerhärchen über die Tochterzelle neben ihm.
Am Tag zuvor hatte sich Hansi an einem Schwarm von Cyanobaktieren gelabt und weil sein Bauch so sehr gefüllt war, hatte Hansi Lust bekommen sich zu teilen.

Gedacht, getan und schon waren sie zu zweit.
 
„Kannst du dich noch erinnern, damals, als ich selbst noch eine frisch geteilte Tochterzelle war?“, flimmert Hansi seiner Tochterzelle zu.
„Ja, klar, du Doofie, ich bin ja ein Klon von dir.“, flimmerte Flo zurück, „Meinst du, als du vor Angst quietschend vor der mickrigen Amöbe geflohen bist?“
„Diese Jugend von heute! Bei der Teilung muss bei dir wohl was mutiert sein, wenn du jetzt schon dement bist, wo soll das noch hinführen?“
„Mutiert, das nimmst du zurück! Und wenn dann sind deine Gene daran schuld!“
„Selber schuld, du Teilungsopfer!“
„Selber Opfer, du unbestimmtes Elternteil!“
 
Das wilde Herumflimmern hatte beide Zellen erschöpft.
 
„Na gut, also woran soll ich mich erinnern?“, fragte Flo.
„Hmpf.“, flimmerte Hansi, „Und wenn dann war es ein Sonnentierchen und keine Amöbe.“
„Also ich meine all diese Erinnerungen, die plötzlich da waren! Generationen und Generationen von Erinnerungen zurück bis zum ersten zufälligen Ahnen-Aminosäurestrang!“
„Als wäre es gestern gewesen!“, zwinkerte Flo versöhnlich zurück.
„Mich hat am meisten diese Geschichte von dem Urahn beeindruckt, der sich gegen die Schwefelesser durchgesetzt hatte!“
„Schwefelfresser, brrr, diese dreckigen …“.
„Na, hör mal, ich dachte, ich habe meinen Rassismus endlich überwunden, und schwupps…“.
„Jaja, ich weiß, die können auch nix dafür, dass es bei denen zu Hause so stinkt…“, flimmerte Flo beschwichtigend.
„So, wo war ich, ja der Schwefelfresser vernichtende Urahn…“
„Hehe, jetzt hast du’s geflimmert!“, kicherte Flo hämisch.
„Grrr, ein paar Millionen Generationen und der Rassismus ist immer noch nicht wegmutiert. Naja, vielleicht bei der nächsten Zellteilung.
Was ich eigentlich flimmern wollte…“
 
In diesem Moment trieb ein Schwarm von Legionellen vorbei.
Hansi und Flo knurrte ihre Nahrungsvakuolen und sie flimmerten hungrig in den Legionellenschwarm hinein.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann teilen sie sich noch heute.

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Ich lebe meinen Traum Günter - WASSERZEICHEN

Ich lebe meinen Traum

Ein angenehmer Geruch nach Pergament und altem, gegerbtem Leder umgab mich. In meiner Insel aus Licht schwand der Rest des dunklen Raumes wie in der Schwärze des materiefreien Weltraumes zwischen zwei Galaxien.

Das starre Pergamentblatt knarrte leise beim Umblättern. Wie Fossilien tauchten die griechischen Buchstaben auf der Seite des antiken Buches auf. Die Stille der nächtlichen – oder schon morgendlichen? – Stunde verstärkte nur noch meine Aufregung.

Nach zwei Jahren der Recherche und detektivischer Suche hatte ich endlich das verschollen geglaubte Manuskript vor mir. Aber es waren nicht die in Griechisch verfassten Pergamentseiten aus dem zweiten Jahrhundert n.Chr., die mich so sehr interessierten. Es war der Einband des Buches aus Leinen, der die erhoffte Sensation enthielt.

Vorsichtig strich ich mit meinen weißen Handschuhen über den antiken Schatz.
Ich stellte mir vor, wie der griechische Gelehrte die für ihn uninteressanten Seiten mit unbekannter Schrift aus dem Kodex trennte. Vielleicht war es ein Familienerbstück aus grauer Vorzeit, aus einer Vergangenheit, die für ihn verblasst war.

Ich nahm meine Spezial-Infrarotlampe und hielt sie vorsichtig über die Vorderseite des Buch-Einbandes. Da tauchten sie auf, die Wörter in etruskischer Schrift, unverwechselbar durch die gespiegelten griechischen Buchstaben. Und jetzt der Moment, auf den ich so lange hin gefiebert hatte, so viele Stunden studiert und gegen alle Widerstände gekämpft hatte.

Meine Hände zitterten leicht, als ich die Lampe über die Rückseite des Einbandes hielt.

Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Da war er. Der übersetzte Text in lateinischer Schrift, der Schlüssel zur Dechiffrierung der bisher vor uns verborgenen etruskischen Sprache!

Originalhandschrift
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Die Enthauptung

Die Enthauptung

Grelle Blitze aus Licht folgten auf gnadenvolle Phasen der Bewusstlosigkeit.
Lautlos schrie Jorges Körper, seine Stimme war schon vor Stunden verstummt. Gepresste Stöße aus Luft versuchten in seine gequetschte Lunge vorzudringen. Die Schulterblätter seiner ausgekugelten Arme, die an dem groben Hanfseil von der Decke hingen, ließen fast keinen Raum für Sauerstoff.
Aber nur fast. 
Seine Folterknechte unterhielten sich lachend, Zigarettenqualm verringerte den Sauerstoffanteil in der Luft noch weiter. Jorges Augen starrten auf den rostigen Kübel vor ihm. 
Seinen Kopf zu heben hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben.

Einmal blinzeln. Weg. Und wieder da.

Unermessliche Schmerzen für das bisschen Sauerstoff. Füße näherten sich am Rand seines Blickfeldes. Füße in braunen Gummistiefen und Beine, verhüllt von einem Einweg-Schutzanzug.
Die konturenlose Gestalt stand jetzt vor ihm.
Eine Hand krallte sich in Jorges Haare und zog seinen Kopf nach oben.
Lichtblitze aus Schmerz durchzuckten seinen gequälten Nacken, seine Schultern und seinen Kopf. Tränen und Schweiß trübten seinen Blick auf die fauligen Zähne im höhnisch lachenden Gesicht seines Peinigers. Jetzt könnte Jorge auch die Anfeuerungsrufe der zwei anderen Schläger des Sinaloa-Kartelles hören. Die andere Hand des namenlosen Peinigers hielt eine penibel geschärfte Machete.
Tränen der Erleichterung liefen über Jorges Gesicht.

Einmal blinzeln. Weg. Und wieder da.

Eine Explosion in seinem Nacken. Verwirrung in seinem Gehirn.
Kein Schmerz, kein Atmen, nur Verwirrung. Sein Blick beginnt sich zu drehen.

„Wo bin ich?“, denkt Jorge.
Sein Blick dreht sich weiter und er sieht einen Körper.
Einen Körper ohne Kopf, aus dem eine Fontäne aus Blut schießt.
„Oh, der arme Körper!“, denkt Jorge, aber sein Blick dreht sich weiter.
Er starrt hinauf auf johlende Gestalten.
Sein Blick dreht sich weiter.
Er starrt hinab in die gähnende Öffnung des Kübels.
Ein dumpfer Aufprall. Finsternis.
Etwas Warmes, das seine Wangen entlangläuft.
Erleichterung und Trauer.
Ein Gedanke. Ein Bild.
Sofia, die Camila an der Hand hält.
Plötzlich blendende Helligkeit.
Stille.

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Das Waisenhaus

Das Waisenhaus

Hänschen stellte sich vor in das Sternenfirnament zu starren.
Mondlicht schimmerte durch Löcher im strohgedeckten Dach des Waisenhauses.

„Wenigstens regnet es heute nicht!“, dachte Hänschen und versuchte eine halbwegs bequeme Position auf der sticheligen Strohmatratze zu finden.
Er lauschte hinein in den Schlafsaal.
Hänschen hatte gelernt auf das Atmen der anderen Waisen zu achten. Ein Kratzen an der morschen Holzwand hinter ihm unterbrach seine Konzentration.

Hänschen erstarrte und hielt den Atem an. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges lauern viele schlimme Dinge hinter jeder Ecke und in jedem Verschlag. Ein leises Fiepen ließ ihn wieder etwas entspannen.
Ein Bild seiner Familie, wie Vater, Mutter und Schwestern um den Esstisch herum saßen und beteten, blitzte in seinem Kopf auf.

„Nein, bitte nicht!“, dachte Hänschen und versuchte verzweifelt die Tränen zu unterdrücken. Obwohl er nicht verstand, wie dieser See aus Tränen immer noch nicht leer sein konnte.

Tränen liefen seine Schläfen herab und versickerten im groben Stroh der gedroschenen Hirsestengel.
Kein Laut verließ seine von der Kälte rissig gewordenen Lippen. Ängstlich lauschte Hänschen in den Raum hinein.
Ein Wimmern, dann ein Röcheln, dann unsägliche Stille. Das leise Kratzen hinter ihm entfernte sich.

Nur der endlose Strom aus Tränen blieb zurück.

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Unzulänglichkeitswut

Unzulänglichkeitswut

Schwäche und Wut
suchen einen Weg zueinander
doch magnetisiert
von der eigenen Existenz
 
ziehen sie sich zurück
werden auseinandergeschleudert
wie Galaxien
die sich zu schnell umeinander
 
drehen
winden
kreisen
wirbeln
 
herum um einen unsichtbaren Punkt
des gemeinsamen Ichs
nicht greifbar
unbegreiflich
 
warum sich diese Energien
unbändig sträuben gegen
todbringende
Harmonie und Entropie
 
in uns und um uns
verhasst in unserem sehnsüchtigen Streben
nach tödlicher Normalität
geboren im Urknall
 
im Ursprung
im Paradies
im Chaos
unerschöpflicher Potenziale

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