von Michaela und Günter

Kategorie: Drama

Trude Günter Wasserzeichen

Trude

„Guruu, Gehirn, Guruu!“, krächzte Trude, die Zombietaube.
 
Sie saß am Sims einer Mansardenwohnung gegenüber dem Stephansdom.
Konzentriert schärfte sie ihren Schnabel an den bereits glattpolierten Stäben des Dornengitters.
 
Der schwarze Schimmel auf ihrem vormals blau-grauen Gefieder verschluckte Großteils das Licht, das vom Fernseher der Wohnung hinter ihr über sie hinwegflackerte.
Ein milchiges Auge fixierte Menschen, die im abendlichen Halbdunkel weit unter ihr – scheinbar fröhlich – über den Stephansplatz torkelten.
Das andere Auge, das bereits ein wenig aus seinem Sockel heraushing, versuchte die Schärfe des Schnabels einzuschätzen.
 
„Guruu, Gehirn, Guruu, Gehirrrrrn!“, krächzte Trude hungrig.
 
Sie beschloss, dass ihr Schnabel jetzt scharf genug war, um durch den Augapfel, die Netzhaut und den Sehnerv in das ersehnte menschliche Gehirn zu gelangen.
Ihre Augen begannen Chamäleon gleich über die Passanten zu zucken, auf der gierigen Suche nach dem leichtesten Opfer.
Trude war so konzentriert auf die Beute unter ihr, dass sie den leisen Luftzug nicht wahrnahm, der über sie hinwegstrich.
 
„Guruu, Gehiiii…..“, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr eigenes Gehirn aufgespießt wurde.
 
„Fiep, Taubengehirn, Fiep!“, piepste Nils, der Zombiehamster, als er genüsslich das Gehirn der Zombietaube durch seine Nosferatu-Zähne aufsaugte.

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Das Waisenhaus

Das Waisenhaus

Hänschen stellte sich vor in das Sternenfirnament zu starren.
Mondlicht schimmerte durch Löcher im strohgedeckten Dach des Waisenhauses.

„Wenigstens regnet es heute nicht!“, dachte Hänschen und versuchte eine halbwegs bequeme Position auf der sticheligen Strohmatratze zu finden.
Er lauschte hinein in den Schlafsaal.
Hänschen hatte gelernt auf das Atmen der anderen Waisen zu achten. Ein Kratzen an der morschen Holzwand hinter ihm unterbrach seine Konzentration.

Hänschen erstarrte und hielt den Atem an. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges lauern viele schlimme Dinge hinter jeder Ecke und in jedem Verschlag. Ein leises Fiepen ließ ihn wieder etwas entspannen.
Ein Bild seiner Familie, wie Vater, Mutter und Schwestern um den Esstisch herum saßen und beteten, blitzte in seinem Kopf auf.

„Nein, bitte nicht!“, dachte Hänschen und versuchte verzweifelt die Tränen zu unterdrücken. Obwohl er nicht verstand, wie dieser See aus Tränen immer noch nicht leer sein konnte.

Tränen liefen seine Schläfen herab und versickerten im groben Stroh der gedroschenen Hirsestengel.
Kein Laut verließ seine von der Kälte rissig gewordenen Lippen. Ängstlich lauschte Hänschen in den Raum hinein.
Ein Wimmern, dann ein Röcheln, dann unsägliche Stille. Das leise Kratzen hinter ihm entfernte sich.

Nur der endlose Strom aus Tränen blieb zurück.

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